
Die Gesellschaft wird immer älter. Bis zum Jahr 2050 werden jeder dritte Mensch in Deutschland und weltweit mehr als zwei Milliarden Menschen über 60 Jahre alt sein. Mit der demografischen Alterung nehmen auch die altersbedingten Erkrankungen zu. Um diesen zukünftig besser und früher begegnen zu können, braucht es Forschung – und in der Folge auch mehr ältere Versuchstiere.
Früher dachte man, dass Alterserscheinungen vor allem auf degenerative Prozesse zurückzuführen sind. Mittlerweise hat sich allerdings gezeigt, dass viele chronische Erkrankungen im höheren Alter durch sogenannte seneszente Zellen mitverantwortet werden. Diese "altmachenden" Zellen, die mitunter auch „Zombie-Zellen“ genannt werden, können sich nicht mehr vermehren und erfüllen meistens ihre ursprüngliche Funktion nicht mehr. Stattdessen kreieren sie häufig ein entzündliches Milieu, beispielsweise indem sie Entzündungs- oder andere Faktoren absondern, die das umgebende Gewebe schädigen können.
Je mehr seneszente Zellen sich ansammeln, desto schlechter kann ein alterndes Immunsystem sie abbauen. Diese Situation kann die Entstehung von Krankheiten wie Demenz, Arteriosklerose, Diabetes oder Osteoporose fördern. Um seneszente Zellen besser zu verstehen und Therapiemöglichkeiten entwickeln zu können, brauchen Forschende deshalb Versuchstiere, die diese Art von Zellen entwickeln – und somit auch älter sind als üblich.
Allerdings sind die in der Versuchstierkunde festgelegten EU-Standardhaltungsbedingungen nicht für alternde Tiere konzipiert. In der Natur leben Ratten oft in Gruppen von 100 und mehr Tieren zusammen, sind sozial vernetzt, sehr lernfähig und spielen bis ins hohe Erwachsenenalter. Als Versuchstier in einem Standard-Tiermodell teilt sich eine Ratte einen Käfig oft mit drei anderen Ratten, so dass die sozialen Beziehungen und die Interaktion mit der Umwelt eingeschränkt sind.
Die Metaanalyse „Conventional laboratory housing increases morbidity and mortality in research rodents“ macht deutlich, dass diese standardisierte, von Reizen und Aktivitätsmöglichkeiten weitgehend abgeschirmte Langzeithaltung einen unabhängigen Belastungsfaktor für die Nager darstellt. Nagetiere, die unter Standardhaltungsbedingungen alt werden, haben nachgewiesenermaßen ein höheres Risiko zu erkranken und sterben eher.
Dietrich Polenz aus der Experimentellen Chirurgie der Chirurgischen Klinik will wissen, wie Versuchsratten in einem sensorisch und sozial angereicherten Umfeld artgerechter altern können. „Auch die Transplantationsmedizin kommt für viele Fragestellungen bisher leider noch nicht ohne Tierversuche aus“, sagt der Veterinäringenieur. Zum Beispiel braucht man Versuchstiere, um zu erforschen, wie sich die Entwicklung von gesunden, reproduktiven Zellen hin zu seneszenten Zellen verhindern oder auch therapieren lässt, um so beispielsweise Spenderorgane zu „verjüngen“ oder Empfänger von Transplantaten älterer Spender möglichst wirkungsvoll vor den negativen Auswirkungen seneszenter Zellen zu schützen. Auch will man verstehen, welche Wirkungen, Nebenwirkungen und Interaktionen bei der Behandlung mit sogenannten Senolytika entstehen, also Medikamenten, die zur Eliminierung der seneszenten Zellen führen. „Da wir noch nicht auf Tierversuche verzichten können, sollten die Tiere zumindest unter für sie günstigen Bedingungen gehalten werden und altern können“, sagt Polenz. „Das bedeutet, dass die Haltungsbedingungen verbessert werden, sodass die Tiere sozial interagieren können und auch physisch fit gehalten werden.“
Das Forschungsprojekt „Lebensraum- und Verhaltensanreicherung in Langzeitstudien zur Alterung im Kleintiermodell“ wird von Charité 3R gefördert und von der zuständigen Tierschutzbeauftragten aktiv unterstützt und überwacht. Es dient unmittelbar dem Aspekt des Refinements an der Charité. Ziel der Studie ist es, kostengünstige und leicht implementierbare Lösungen wie zum Beispiel sensorische Stimuli, Bewegungs- und Explorationsangebote für die Versuchstiere zu erproben, zu dokumentieren und ihre Auswirkung auf physiologische Parameter wie zum Beispiel Stresshormone, Seneszenz und Metabolismus zu untersuchen.
Aktuell arbeitet der Veterinäringenieur mit 56 weiblichen, genetisch weitgehend identischen Ratten, die im Herbst 2023 ihr Zielalter von 22 Monaten erreicht haben werden. Die Hälfte der Tiere altert bis dahin in einer Standardtierhaltung, die andere Gruppe lebt in einer angereicherten Haltung. In diesem sogenannten „Enriched Housing-Modell“ kommen die Tiere der zweiten Gruppe dreimal pro Woche in den Spielekäfig mit Klettermöglichkeiten, Wasserbad, Buddelbecken, Tunneln, Häuschen und einem Laufrad, wo sie mit bis zu 14 Ratten spielen. Während der Woche erhalten sie zudem abwechselnd Hanfstreu, Stroh oder Heu in den Käfig sowie Gurken, Möhren, Nüsse und Sonnenblumenkerne zum Beschnuppern und Fressen. „Es geht darum, mit überschaubaren Ressourcen ein Haltungsmodell zu etablieren, das die Tiere auf verschiedenen sensorischen Ebenen stimuliert, sie zu körperlicher Aktivität wie Klettern, Futtersuche und sozialer Interaktion anregt und ihren Bedürfnissen somit deutlich näherkommt als die derzeitige Standardtierhaltung“, sagt der Forscher.
Bis die Tiere ihr Zielalter erreicht haben, werden ihre Haarproben auf Hormone wie zum Beispiel Kortikoide und Östrogene untersucht. Zudem werden sogenannte Seneszenzmarker aus dem Blut ermittelt, die eine Aussage über die entzündlichen Prozesse erlauben. Wenn die Tiere mit 22 Monaten eingeschläfert werden, verteilt Polenz die Gewebe, die nicht für seine chirurgische Forschung benötigt werden, an kooperierende Forschungsgruppen in unterschiedlichen Fachbereichen.
Im Vorfeld der Studie hatte er zwecks Kooperation viele verschiedene Disziplinen und Institute angeschrieben. Die Nachfrage nach den älteren Versuchstieren war von Beginn an groß. „Je mehr Gruppen sich die Organe und Gewebe der Tiere für ihre Forschungszwecke teilen, desto weniger Versuchstiere braucht es insgesamt“, sagt der Veterinäringenieur. Damit leistet die Studie neben dem Refinement auch einen Beitrag zur Reduktion benötigter Versuchstiere.
Die Studie hat zudem die Idee eines langfristigen „Organ Share Points“ an der Charité gefördert. „Unsere Arbeit wird helfen, langfristig mit wenig Mitteln bessere Forschungsbedingungen zu erzielen“, sagt der Forscher, der seit fast 25 Jahren in der Versuchstierkunde arbeitet. „So leisten wir unseren Beitrag, um Schritt für Schritt die Standards der Tierhaltung zugunsten der Tiere und der Wissenschaftler zu verbessern und Leiden und Stress in der Haltung von Versuchstieren zu minimieren.“
(Text: Beate Wagner)
Literaturangaben
Scudellari, M.: To stay young, kill zombie cells. Nature, 2017.
Freund, A., et al.: Inflammatory networks during cellular senescence: causes and consequences. Trends Mol Med, 2010.
Herranz, N. and J. Gil: Mechanisms and functions of cellular senescence. J Clin Invest, 2018.
Lee, B.C. and K.R. Yu: Impact of mesenchymal stem cell senescence on inflammaging. BMB Rep, 2020.
Cait, J., et al.: Conventional laboratory housing increases morbidity and mortality in research rodents: results of a meta-analysis. BMC Biol, 2022.
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