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Mini-Gehirne aus Stammzellen. (Bildrechte: BIH/David Ausserhofer)

08.11.2019

Mini-Hirne aus Stammzellen

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Die aus humanen Stammzellen generierten Hirnorganoide haben Platz in einer kleinen Petrischale. (Bildrechte: BIH/David Ausserhofer)
Die aus humanen Stammzellen generierten Hirnorganoide haben Platz in einer kleinen Petrischale. (Bildrechte: BIH/David Ausserhofer)
Nach ca. 30 bis 40 Tagen ist das Gehirnmodell zu einer Größe von vier bis fünf Millimetern herangewachsen. (Bildrechte: BIH/David Ausserhofer)
Nach ca. 30 bis 40 Tagen ist das Gehirnmodell zu einer Größe von vier bis fünf Millimetern herangewachsen. (Bildrechte: BIH/David Ausserhofer)

Wissenschaftler der Charité und des BIH haben aus humanen pluripotenten Stammzellen ein Gehirnmodell gezüchtet. Ziel: Ein Wirkstoff, der den Zelltod bei Schlaganfall verhindern kann. Nebenwirkung: Die Methode könnte viele Tierversuche ersetzen.

Der Schlaganfall ist eigentlich schon recht gut erforscht. Insbesondere durch Mausmodelle konnte die Forschung in den letzten 20 bis 30 Jahren sehr viele Erkenntnisse über die Pathophysiologie des Hirnschlags gewinnen. Dennoch gibt es für die allermeisten Patienten bis heute keine spezifische Therapie. Eine Auflösung des arterienverstopfenden Blutgerinnsels mittels Medikamenten (Lyse) oder operativ (Thrombektomie) ist nämlich nur bei etwa 10 bis 15 Prozent der Patienten möglich. Die Zeit ist hier der größte Gegner.

Rund 270.000 Menschen in Deutschland sind jedes Jahr von dem fatalen Ereignis betroffen – etwa die Hälfte bleibt mit teils schwersten neurologischen Behinderungen zurück, ein Viertel verstirbt an den Folgen. Der Bedarf an neuen Therapien ist also riesig.

Den Zelltod im Visier
Dass es beim Schlaganfall ein „Problem“ gibt, finden auch Dr. Philipp Mergenthaler und Dr. Harald Stachelscheid von der Charité und dem Berlin Institute of Health (BIH). Vor gut zwei Jahren haben sich der Neurologe und der Stammzellforscher zusammengetan, um neue Therapieansätze zu erforschen. Eine heiße Spur haben sie schon: ein Molekül, das den Zelltod bei Schlaganfall unter bestimmten Bedingungen stoppen kann.

Allein das ist schon eine Nachricht wert. Genauso eindrucksvoll ist jedoch der Weg zum Ziel. Um die Mechanismen des Zelltods im Gehirn und speziell die Wirksamkeit des neuen Moleküls zu erforschen, nutzen die Forscher nicht wie sonst üblich Mäuse, sondern eigens entwickelte Mini-Gehirne. Die sogenannten Organoide werden in den Laboren der beiden Wissenschaftler an der Charité mit Hilfe von induziert pluripotenten Stammzellen gezüchtet, die aus Zellen erwachsener Menschen generiert werden. Dafür wird zunächst eine reife Zelle, etwa aus dem Blut oder der Haut entnommen, und im Labor in einen embryonal-ähnlichen Zustand zurückversetzt.

Hirnähnliches Gewebe vom Menschen, nicht von der Maus
„Pluripotente Stammzellen sind so wertvoll, weil sie sich in alle Zelltypen des Körpers ausdifferenzieren können“, erklärt Harald Stachelscheid, der am BIH die Core-Facility „pluripotente Stammzellen“ leitet. Eben auch in Nervenzellen, Astrozyten, Oligodendrozyten und Mikrogliazellen, also jene Zellen, aus denen das menschliche Gehirn besteht. Dank dieser großartigen Fähigkeit und ein paar entscheidenden Weichenstellungen in der Petrischale besitzen auch die wenige Millimeter großen Organoide typische Zelltypen und Organisationsstrukturen eines echten Gehirns.

„Der entscheidende Punkt ist, dass unser hirnähnliches Gewebe vom Menschen kommt“, betont Neurowissenschaftler und Mediziner Philipp Mergenthaler, der unter anderem dem Charité Centrum für Schlaganfallforschung Berlin angehört und vom BIH Charité Clinician Scientiest Program gefördert wird. „Hinzukommt, dass wir sehr patientenspezifisch Krankheitsmechanismen oder Wirkstoffe im Kontext einer personalisierten Medizin untersuchen können.“

Lassen sich an den Mini-Gehirnen also die Abläufe beim Schlaganfall besser und realitätsnäher untersuchen als an Mäusen? Das ist die Hoffnung. Allerdings ist die Übertragbarkeit von Ergebnissen aus der Grundlagenforschung in die Klinik immer schwierig. Man müsse ehrlich sein, meint Philipp Mergenthaler. „Wir wissen von den Organoiden noch nicht, wie gut sie am Ende menschliche Krankheiten abbilden.“

Darum ist die Erforschung und Weiterentwicklung des Modells eine Kernaufgabe der beiden. Übrigens eine, die weder gefördert noch finanziert wird. Aber weil humane Modelle die Zukunft sind und Tierversuche ja reduziert werden sollen, erledigen die Forscher diesen anspruchsvollen Job quasi nebenbei. Kollegen aus anderen Bereichen kommen ihnen dabei zu Hilfe.

Mini-Gehirne senden elektrische Signale
Neurophysiologen um Prof. Dr. Jörg Geiger von der Charité sollen helfen, die Funktionen der Nervenzellen und deren elektrische Aktivität zu messen – und tatsächlich weisen die kleinen dreidimensionalen Zellhaufen eine spontane Nervenzellaktivität auf.

Darüber hinaus werden Computermodelle aus der experimentellen Forschung von Charité-Neurologin Prof. Dr. Petra Ritter zum Einsatz kommen. Diese Modelle werden mit ganz viel Wissen aus klinischen Studien und klinischer Bildgebung gespeist und sind in der Lage, Hirnaktivität lebensnah zu simulieren. Die Simulationsergebnisse können die Forscher dann direkt mit den Messungen an den Organoiden vergleichen. „Mit diesen Bausteinen und dem, was wir über Mikroskopie und Stoffwechselaktivität messen, können wir ein umfassendes Bild bekommen, wie nah unsere Organoide an der Realität dran sind“, erläutert Mergenthaler.

Doch weil hier Unmengen an Daten auflaufen – allein die Hochdurchsatz-Mikroskopie liefert Hundertaussende Bilder – braucht es noch mehr Verstärkung in Form von Künstlicher Intelligenz. „Nur mit Hilfe von Werkzeugen wie maschinellem Lernen ist es überhaupt möglich solche Bilder auslesbar zu machen, so dass der Computer sinnvolle Informationen daraus ziehen kann“, betont Harald Stachelscheid. „Wir entwickeln solche Software zwar selbst, aber daran sieht man auch, dass so ein Projekt letztlich nur mit ganz vielen Partnern zu stemmen ist“, ergänzt Philipp Mergenthaler.

Organoid-Plattform vom Land Berlin ausgezeichnet
In der neu entwickelten Modellplattform steckt also jede Menge menschliche und künstliche Intelligenz. Weil dieser Ansatz das Potential hat, Tierversuche in der Schlaganfallforschung zu ersetzen, wurden Mergenthaler und Stachelscheid bereits 2017 mit dem Preis des Landes Berlin „zur Förderung der Erforschung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden für Tierversuche in Forschung und Lehre“ ausgezeichnet.

Ein unschlagbarer Vorteil dabei ist, dass auf eine Zellkulturplatte 100 bzw. 400 Oragnoide gleichzeitig passen. Die Platten selbst sind nicht größer als eine CD. Tausende Mini-Gehirne können so zu Versuchszwecken auf engstem Raum zusammen „leben“. Undenkbar, eine vergleichbare Menge an Mäusen zu halten. Da so wesentlich mehr Experimente wie Wirkstofftests in kürzester Zeit durchgeführt werden können, sind die humanen Modelle den Tierversuchen zumindest in quantitativer Hinsicht bereits weit überlegen. „Das ist ein ganz wichtiger Aspekt für die Reduzierung von Tierversuchen“, sagt Mergenthaler. „Auch glauben wir, dass wir mit den Organoiden die Validität und Reproduzierbarkeit von Versuchsergebnissen in der Schlaganfallforschung wesentlich verbessern können – auch das hilft, Tierversuche in hohen Größenordnungen einzusparen.“

Blutgefäße fehlen noch
Einen Nachteil haben die Humanmodelle noch: Organoide haben keine Gefäße und damit keine Blutversorgung. Weltweit und auch am BIH arbeiten Forscher zwar an derLösung des Problems, aber noch sind die Blutgefäße ein wunder Punkt. Stachelscheid nennt es den „heiligen Gral“ in der Welt der Organoide. Nach Auskunft der Forscher kann dieses Defizit mit den genannten Überprüfungsmethoden aber gut kompensiert werden. Ohnehin muss jedes Modell an seiner Fragestellung bewertet werden, denn One-fits-all gibt es hier nicht. „Wir hoffen jedenfalls, dass wir die eine oder andere Fragestellung besser beantworten können als in der Maus“, sagt Stachelscheid.

Ob diese Hoffnung berechtigt ist, muss sich noch in vielen weiteren Experimenten zeigen. Erst wenn sich die Ergebnisse aus dem Labor am Menschen bestätigen, weiß man, wie praxistauglich der neue Therapieansatz aus Mergenthalers und Stachelscheids Laboren tatsächlich ist.

Das kleine Molekül hat noch einen langen Weg vor sich
So ist es auch noch nicht gesagt, dass das kleine Molekül den langen Weg in die Apotheke schafft. Die Forschung mit humanen Modelsystemen ist lediglich ein Schritt einer jahrelangen Wirkstoffentwicklung. Aber es wäre ihm sehr zu wünschen. Denn wenn alles gut geht, könnte der Wirkstoff Nervenzellen des Gehirns vor dem Absterben schützen und somit etliche neurologische Folgeschäden des Schlaganfalls verhindern.

„Das Kerngebiet des Schlaganfalls können wir damit sicher nicht retten, weil es innerhalb von wenigen Minuten abstirbt“, erläutert Mergenthaler. „Aber das große Gebiet um diesen Kern, das ebenfalls von der Mangelversorgung betroffen ist und in den folgenden Stunden und Tagen stark gefährdet ist, könnten wir möglicherweise vor weiteren Schäden bewahren.“

Das kleine Molekül, das der Berliner Neurowissenschaftler gemeinsam mit der Universität Toronto entwickelt hat, wäre das erste spezifische Medikament gegen den Zelltod bei Schlaganfall. Und eines der ersten, das seine Existenz im Wesentlichen Organoiden verdankt. Ein schöner Gedanke, wenn dadurch sowohl Schlaganfallpatienten als auch Mäusen künftig Leid erspart werden könnte.

(Autorin: Beatrice Hamberger)

Kontakt

Dr. med. Philipp Mergenthaler
Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie
Centrum für Schlafanfallforschung Berlin
Charité - Universitätsmedizin Berlin
Charitéplatz 1
10117 Berlin

Dr. rer. nat. Harald Stachelscheid
Berliner Institut für Gesundheitsforschung
Core Unit Stammzellen
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin     



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