
In der embryonalen Entwicklung ist die Leber nicht nur ein Stoffwechselorgan, sondern auch entscheidend für die Entwicklung des Bluts und des Immunsystems. Wie diese verschiedenen Zelltypen im Embryo zusammenarbeiten, ist noch unklar. Dabei könnte genau hier der Schalter für die Entstehung frühkindlicher Lebererkrankungen und Leukämien umgelegt werden. Es ist allerdings ausgesprochen schwierig, die Krankheitsprozesse in der sich entwickelnden Leber zu beobachten. Abhilfe schaffen Blut-Leber-Organoide, die Dr. Milad Rezvani in seiner Forschungsgruppe an der Charité entwickelt.
Die Gallengangsatresie ist eine schwerwiegende Erkrankung, bei der die Entwicklung der Leber und des Immunsystems eine Rolle spielen. Dabei verkümmern aufgrund einer überschießenden Entzündungsreaktion die „Abflussrohre“ der Leber – die Gallengänge. So kann die Galle, die von der Leber gebildet und in der Gallenblase gespeichert wird, nicht mehr in den Dünndarm fließen. Sie staut sich in der Leber, drückt auf das Lebergewebe und zerstört es nach und nach. Ohne Operation endet das Ganze tödlich. Eine Gallengangsatresie ist der häufigste Grund für eine Lebertransplantation bei Neugeborenen. Etwa eins von 30.000 Kindern kommt in Deutschland mit diesem Defekt auf die Welt.
„Trotz dieser schweren Krankheitslast wird zur Gallengangatresie im Vergleich etwa zu Leukämien nur wenig geforscht“, sagt Dr. Milad Rezvani von der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Gastroenterologie, Nephrologie und Stoffwechselmedizin der Charité. Das will er ändern. Mit seiner von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe erforscht er Ursachen und therapeutische Strategien von chronischen Lebererkrankungen. Gallengangsatresien entstehen oft vor der Geburt in der fetalen Leber. Die Leber ist in diesem frühen Stadium des Menschseins in erster Linie ein blutbildendes Organ. Stoffwechselprozesse übernimmt währenddessen die Leber der Mutter.
Dreidimensionale Gewebemodelle in der Petrischale
Dr. Milad Rezvani und seinem Team ist es gelungen, Blut-Leber-Organoide zu entwickeln, an denen sich die Krankheitsprozesse auf zellulärer und molekularer Ebene beobachten lassen. Organoide, oft als Miniatur-Organe bezeichnet, sind Zellkulturmodelle, die ein Gewebe dreidimensional in der Petrischale abbilden. Forschende züchten sie meist aus Stammzellen, die noch nicht oder kaum differenziert sind. Sie können sich in jedweden Zelltyp entwickeln, etwa in Herz- oder Nierenzellen, Muskelzellen oder Neuronen. Im Labor von Milad Rezvani werden aus ihnen Leberzellen. Wie in echtem Organgewebe werden diese von verschiedenen Blut- und Immunzellen durchdrungen. „Leberzellen entwickeln sich nicht im Vakuum“, erläutert Dr. Rezvani, „sondern gemeinsam mit weißen Blutkörperchen und anderen Zellen der körpereigenen Abwehr.“ Und wie echte Leberzellen produzieren auch die von seiner Gruppe geschaffenen Leberzellen Blut – sichtbar als rote Flecken zwischen den reiskorngroßen Zellansammlungen.
„Unsere Organoide sind eine Art Fenster in ein zuvor nicht zugängliches Organ, die fetale Leber“, sagt Dr. Rezvani. Der Wissenschaftler und Kinderarzt hofft, mit ihrer Hilfe die bislang unbekannte Ursache der Gallengangatresie aufzuklären. Um mögliche Umwelteinflüsse und genetische Faktoren aufspüren und gegeneinander abgrenzen zu können, will er demnächst Lebermodelle aus patienteneigenen Vorläuferzellen entwickeln. Er reift Blut-Leber-Organoide außerdem aus, um sie als Krankheitsmodell für Erkrankungen bei Erwachsenen zu nutzen, zum Beispiel die Fettleberhepatitis, mittlerweile die häufigste chronische Lebererkrankung. Dabei verfettet die Leber und entzündet sich. Nicht selten macht sie eine Lebertransplantation erforderlich. Rezvanis Team sucht nach den Zellen, die die Entzündung verursachen – um sie auszuschalten und so die Entzündung abzumildern. Daneben will er an Blut-Leber-Organoiden auch den Verlauf von Neugeborenen-Leukämien untersuchen. „Wir können im Blut die Leukämie-verursachende Mutation erzeugen“, erläutert der Wissenschaftler, „um zu beobachten, wie sich eine Leukämie im Zusammenspiel der Zellen im Gewebe entwickelt.“
Leberzellen mit der Genschere wachkitzeln
In Organoiden funktioniert diese genetische Manipulation wesentlich besser als in Zellen, die aus Tiermodellen gewonnen werden. Beispielsweise können Leberzellen, die im Zuge einer chronischen Lebererkrankung in eine Identitätskrise schliddern und sich nicht mehr verhalten wie Leberzellen, in der Petrischale genetisch reaktiviert werden. „Mithilfe der Genschere CRISPR können wir so in eine Leberzelle eingreifen, dass sie wieder tut, was eine Leberzelle tun muss“, erläutert Dr. Rezvani. Auf diese Weise tragen die Miniatur-Organe dazu bei, die Anzahl von Tiersuchen zu reduzieren. „Neue Gentherapien können zunächst an Organoiden erprobt werden. Tierversuche sind dann nur noch nötig, um die Experimente im lebenden Organismus zu bestätigen“, erklärt der Forscher. Ein weiterer Vorteil sei, dass Organoide nahezu unbegrenzt zur Verfügung stehen, „denn ihre Zellquelle versiegt nie.“
Derzeit arbeitet die Gruppe gemeinsam mit einem Start-up an einem Analysesystem, das mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) geschädigte Zellen in einem Organoid erkennen kann. Bislang ist es erforderlich, die Zellen vor dem Mikroskopieren einzufärben. „Es wäre ein Traum und würde die Leberforschung enorm voranbringen, wenn wir uns den extrem komplizierten und zeitaufwändigen Prozess des Abtötens und Einfärbens von Zellen sparen könnten“, schwärmt Dr. Milad Rezvani. Auch Toxikologiestudien, mit denen im Hochdurchsatzverfahren die Wirkung von Medikamenten untersucht wird, würden noch schneller zu Ergebnissen kommen.
Die Leber aus dem Labor
Ebenfalls Zukunftsmusik ist es, die Organoid-Technologie zu nutzen, um Organersatz zu züchten. „Komplett unrealistisch ist das nicht“, sagt Dr. Milad Rezvani, „wir können ja bereits ein gewebsähnliches Konstrukt entwickeln.“ Dieses Gewebskonstrukt könnte auf ein Gerüst „ausgesät“ werden, an dem das Organ dann entlang wächst. Bis es die erste Leber aus dem Labor gibt, wird zwar noch eine viel Zeit verstreichen. Aber die ersten Gespräche über mögliche Projekte hat der Charité-Forscher bereits geführt.
(Text: Jana Ehrhardt-Joswig)
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