

Schneller den passenden Wirkstoff finden und dabei 90 Prozent der üblichen Tierversuche einsparen: Das verspricht ein Computer-Modellierungsverfahren, das Forschende der Charité – Universitätsmedizin Berlin gemeinsam mit dem Zuse-Institut Berlin entwickelt haben. Es ist das erste System weltweit, das mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz die Aktivierung von Rezeptoren unter krankheitsspezifischen Bedingungen im Computer simulieren kann.
Jedem zugelassenen Medikament geht eine langwierige Wirkstoffsuche voraus. Klassischerweise werden dafür Abertausende von Molekülen gescreent und die aussichtsreichsten Kandidaten nach einer chemischen Verfeinerung in umfangreichen Tierversuchen getestet. Der Ausgang dieser Versuche ist ungewiss. Gewiss ist nur, dass es der Großteil der Dutzenden Kandidaten nie in eine klinische Studie schafft.
Seit einigen Jahren nutzen Pharmafirmen und Forschungseinrichtungen für die erste Screening-Phase alternativ auch Computer-Modellierungen. Diese sogenannten in silico-Verfahren haben jedoch den Nachteil, dass potenzielle Moleküle unter physiologisch gesunden Bedingungen getestet werden. Die Aussagekraft, ob eine Substanz bei einer bestimmten Krankheit wirkt, ist somit gering - weswegen aus solchen Ansätzen bislang noch keine zugelassene Substanz hervorgegangen ist. Die schädlichen Nebenwirkungen waren zu groß.
Krankheit wird im Computer nachgestellt
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Charité und des Zuse-Institut Berlin verfolgen deshalb eine andere Strategie. Mit ihrem schon vor Jahren entwickelten Computer-Modellierungsverfahren können weltweit zum ersten Mal krankheitsspezifische Bedingungen simuliert werden. „Der große Unterschied zu den bisherigen in silico-Verfahren ist, dass wir die Interkation zwischen den Rezeptoren und einer Substanz im pathologischen Milieu modellieren können, also etwa bei einer Entzündung“, sagt Prof. Dr. Christoph Stein vom Institut für Experimentelle Anaesthesiologie, Charité Campus Benjamin Franklin „So sind wir näher dran an der Krankheit des Menschen und können schneller die passenden Moleküle finden.“
Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) können die Forschenden zum Beispiel am Computer ausrechnen, welche Liganden an einen bestimmten Rezeptor binden, ob der Ziel-Rezeptor dadurch aktiviert wird, wie die Kräfte der einzelnen chemischen Moleküle aufeinander wirken und wie konzentriert die Dosis sein müsste, damit der Wirkstoff ausreichend wirksam, aber nicht toxisch ist. Das Berliner Verfahren lässt sich grundsätzlich auf alle Erkrankungen anwenden, bei denen G-Protein gekoppelte Rezeptoren (GPCR) eine Rolle spielen. Zum Beispiel Herzinfarkt, Krebs, Arthritis, Bluthochdruck, Epilepsie, Alzheimer, Parkinson oder eben Entzündungen aller Art – die Liste ist lang. Ungefähr jedes dritte Medikament wirkt auf diese Rezeptoren-Gruppe. Auch Opiate docken an einen solchen GPC-Rezeptor an: den Opioid-Rezeptor (mu-Opioidrezeptor; kurz MOR).
Alles begann mit der Suche nach einem neuen Opiat
Als Anästhesist und Schmerzspezialist hat sich Prof. Christoph Stein schon immer für diesen prominenten Rezeptor interessiert; speziell für die Frage, ob sich Entzündungsschmerz im peripheren Gewebe gezielter ausschalten lässt als mit den herkömmlichen, nebenwirkungsreichen Opiaten. Also hat er vor einigen Jahren gemeinsam mit dem Mathematiker PD Dr. Marcus Weber vom Zuse-Institut Berlin ein KI-basiertes Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe speziell das Entzündungsmilieu im Computer modelliert und neue Schmerzmittel entwickelt werden können. Geprüft wurden damit gut zwei Dutzend Moleküle und schließlich drei geeignete Kandidaten identifiziert. Die drei Moleküle wurden anschließend von einem externen Labor chemisch synthetisiert und schließlich im Tierversuch getestet.
Tierversuche signifikant reduziert
Mit Erfolg: Das Ergebnis ist eine Substanz namens NFEPP, die weitaus weniger Nebenwirkungen verursacht als Morphin & Co. „NFEPP aktiviert den Opioid-Rezeptor selektiv in verletztem und entzündetem Gewebe, ohne die typischen Opioidnebenwirkungen an "normalen" mu-Opioidrezeptoren im Gehirn auszulösen“, berichtet Stein. Arbeitsgruppen in Europa und den USA konnten die vielversprechenden Ergebnisse erfreulicherweise bestätigen.
Das ist aber nur der erste Teil der Erfolgsgeschichte. Der zweite Teil besteht darin, dass die neuen Computersimulationen bereits zu einer signifikanten Reduktion von Tierexperimenten geführt haben. Denn üblicherweise werden im Rahmen einer Wirkstoffsuche hunderte Substanzen im Tierversuch getestet, hier waren es aufgrund der intelligenten Vorauswahl gerade mal drei.
Mit KI schneller zum Ziel
„Da die traditionelle Screening-Phase entfällt, lassen sich mit unserer Methode rund 90 Prozent der Tierversuche einsparen“, betont Stein. „Außerdem ist die Computersimulation wesentlich schneller, zielführender und preiswerter, wenn man sie wie wir unter krankheits-spezifischen Bedingungen macht.“
Aktuell besonders spannend ist, dass sich die KI-basierten Computermodelle auch auf das Forschungsthema Nummer 1 übertragen lässt: COVID-19. Christoph Stein und sein Kollege Marcus Weber haben schon die ersten Projekte im Auge. Sie hoffen nun, dass die Methode von möglichst vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern genutzt wird. Alles ist veröffentlicht, alles ist genau beschrieben, alles auf Servern frei zugänglich. „Das ist für jede Arbeitsgruppe in diesem Gebiert machbar und eine Blaupause für die Ziele von 3R.“
(Text: Beatrice Hamberger)
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Prof. Dr. med. Christoph Stein
Direktor
Arbeitsbereich Experimentelle Anästhesiologie
Campus Benjamin Franklin
Originalpublikation:
Science 03 Mar 2017:Vol. 355, Issue 6328, pp. 966-969. DOI: 10.1126/science.aai8636
A nontoxic pain killer designed by modeling of pathological receptor conformations.
Spahn V, Del Vecchio G, Labuz D, Rodriguez-Gaztelumendi A, Massaly N, Temp J, Durmaz V, Sabri P, Reidelbach M, Machelska H, Weber M, Stein C.
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Zuse Institut Berlin - PH-dependent Opioids
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