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Ganglia humaner iPSC-basierter sensibler Neurone, die für Neurofilament-Cytoskelettelemente (neurofilament heavy chain) und Zellkerne (DRAQ5) gefärbt wurden. Mit diesen Zellen lassen sich Mechanismen neurotoxischer Nebenwirkungen von Chemotherapien modellieren. (Copyright C. Schinke)

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20.05.2022

Neuropathien tierfrei erforschen

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Ganglia humaner iPSC-basierter sensibler Neurone, die für Neurofilament-Cytoskelettelemente (neurofilament heavy chain) und Zellkerne (DRAQ5) gefärbt wurden. Mit diesen Zellen lassen sich Mechanismen neurotoxischer Nebenwirkungen von Chemotherapien modellieren. (Copyright C. Schinke)
Ganglia humaner iPSC-basierter sensibler Neurone, die für Neurofilament-Cytoskelettelemente (neurofilament heavy chain) und Zellkerne (DRAQ5) gefärbt wurden. Mit diesen Zellen lassen sich Mechanismen neurotoxischer Nebenwirkungen von Chemotherapien modellieren. (Copyright C. Schinke)

Menschliche Zellen für die Erforschung von Neuropathien nutzen statt Mäuse oder Ratten – Forschende der Charité haben gezeigt, dass das möglich ist. Das neue Modell basiert auf sogenannten sensiblen Neuronen, die ursprünglich aus weißen Blutkörperchen von Patientinnen stammten, bevor sie zu Stammzellen umprogrammiert und schließlich in Nervenzellen differenziert wurden. Sensible Neuronen erlauben eine patientennahe Forschung, die bisher so nicht möglich war.

Vom Krebs geheilt – und dennoch nicht gesund: Polyneuropathien gehören leider zu den häufigen Folgen einer Chemotherapie. Dabei handelt es sich um Sensibilitätsstörungen wie Taubheitsgefühle oder ein ständiges Kribbeln in Armen oder Beinen. Hinzu kommen oft neuropathische Schmerzen. Diese Symptome sind quälend und lassen sich bislang nur schwer behandeln.

Warum bestimmte Chemotherapien die Nervenverbindungen – sogenannte Axone – zerstören können, ist bislang nicht ausreichend verstanden. Denn eigentlich vernichten die Krebsmedikamente vor allem sich schnell teilende Zellen – die meisten Nervenzellen teilen sich jedoch nicht mehr. Unklar ist außerdem, warum einige Krebspatientinnen mit schweren Neuropathien reagieren, während andere davon verschont bleiben. Auch die entscheidenden Fragen, wie sich neuropathische Schmerzen besser behandeln oder sich neurotoxische Nebenwirkungen gar verhindern lassen, ohne auf die wichtige Krebstherapie zu verzichten, sind bis dato ungelöst.

Ein buchstäblich humaneres Modell 
Dr. Christian Schinke und PD Dr. Wolfgang Böhmerle von der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie treiben diese Fragen seit Jahren um. Bislang sind Ratten und Mäuse die gängigen Modellorgansimen zur Erforschung von Neurodegeneration und Schmerz. Da sich Tierversuche aufgrund der Interspeziesunterschiede oft nicht 1:1 auf den Menschen übertragen lassen, meist aufwändig und teuer sind und nicht zuletzt möglicherweise Tierleid bedeuten, haben die beiden Neurologen gemeinsam mit der BIH Core Facility Stem Cells ein Zellmodell entwickelt, das buchstäblich „humaner“ ist. Sensible Neuronen stammen aus menschlichem Zellmaterial – und haben den Vorteil, dass sie die genetische Vielfalt der Patientinnen abbilden und sich nahezu unbegrenzt im Labor herstellen lassen.

„Die in unserem Labor gezüchteten sensiblen Neurone reagieren ähnlich wie echte, also primäre Nervenzellen von Tieren oder Menschen auf innere und äußere Reize. Wir können hiermit Mechanismen nachstellen, wie sie beispielsweise bei einer Nervenschädigung auftreten - ohne dass hierfür ein einziges Versuchstier verwendet werden müsste“, erläutert Christian Schinke. Allein für die äquivalente Durchführung der Experimente der ersten Publikation hätte man 2.500 Rattenjungtiere gebraucht – rechnet der vom BIH Clinician Scientist Programm geförderte Arzt und Wissenschaftler vor.

Sensible Neuronen behaupten sich als Alternative 
Dass die Alternativmethode funktioniert, haben die Forschenden im vergangenen Jahr zeigen können. Die Studiendaten und die Rohdaten sind inzwischen publiziert. „Erfreulicherweise konnten wir mit unseren Ergebnissen Mechanismen reproduzieren, wie sie sowohl von Tierversuchs-basierten als auch von klinischen Studien bereits nahegelegt wurden“, sagt Christian Schinke. Diesen kritischen Vergleich mit der Literatur anzustellen, sei wichtig und notwendig, „weil wir Tierversuche ja so weit wie möglich ersetzen wollen.“

Um den Proof-of-concept zu erbringen, haben die Forschenden im ersten Schritt Brustkrebspatientinnen vor der Chemotherapie Blut abgenommen und die weißen Blutkörperchen in eingefrorenem Zustand an die Mitarbeitenden um Dr. Harald Stachelscheid von der Core Facility Stem Cells übergeben. In dem Speziallabor am Berlin Institute of Health (BIH) wurden die Blutzellen in sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPSC) umprogrammiert. Aus dem Stammzellmaterial differenzierten die Neurologen schließlich die sensiblen Nervenzellen. Mehr als 40 Tage hat das gedauert, dann konnten die ersten Versuche beginnen: Gaben die Forschenden neurotoxische Chemotherapien auf das Modell, reagierten die sensiblen Neuronen einerseits mit Zelltod oder Schäden an den Axonen, wie man sie bei Menschen mit Sensibilitätseinschränkungen nach der Chemotherapie erwarten würde. Andererseits zeigten die sensiblen Neurone Veränderungen ihrer elektrischen Aktivität oder produzierten vermehrt bestimmte Botenstoffe, wie sie bei Menschen mit neuropathischen Schmerzen relevant sind. Aber auch das umgekehrte war der Fall: Wurden die sensiblen Neurone nicht-neurotoxischen Chemotherapien ausgesetzt – also jene, die bei Patientinnen nicht zu Sensibilitätsverlust oder Schmerz führen - dann blieben die krankhaften Veränderungen auch im Zellmodell aus.

„Unser Modell scheint substanzspezifisch zu sein und legt nahe, dass sich bestimmte mit Neuropathien verbundene Mechanismen und eventuell auch Aspekte von neuropathischem Schmerz experimentell nachbilden lassen“, betont Christian Schinke. „Das Spannende ist, dass wir im nächsten Schritt die Ergebnisse mit den klinischen Befunden abgleichen können und damit auch Unterschiede zwischen den Patientinnen mit und ohne Nebenwirkungen experimentell herausfinden können. Mit einem Tiermodell wäre das niemals möglich.“

Neue Ergebnisse unterstützen das Potential sensibler Neurone als translationales Modell
Während der Abgleich der Modelldaten mit den klinischen Befunden noch läuft, konnten die Forschenden bereits in einem Folgeprojekt einen Biomarker identifizieren, der zwischen Patientinnen mit und ohne Nebenwirkungen unter Chemotherapie zu unterscheiden vermag. Dabei handelt es sich um das sogenannte Neurofilament Leichtkettenprotein (NFL), ein Skelettelement aus dem Inneren von Nervenzellen. NFL wurde in der Zellkultur von jenen Neuronen messbar freigesetzt, die durch eine Behandlung mit dem Zytostatikum Paclitaxel zelluläre oder axonale Schäden aufwiesen. Dabei war die Konzentration von NFL umso höher, je länger und stärker die sensiblen Neurone in Kultur geschädigt wurden. Anschließend schauten die Forscher, ob dieser Marker auch eine klinische Relevanz hat – und die hatte er. „Wir haben gesehen, dass Patientinnen mit schweren neuropathischen Beschwerden nach Chemotherapie auch höhere Konzentrationen von NFL im Blut haben, wohingegen der Marker bei Patientinnen ohne Nebenwirkungen nicht wesentlich unter der Behandlung ansteigt.“

Damit legt das Modell nahe, dass es ein hohes Potential zur Translationalität aufweist - das heißt, dass man Forschungsergebnisse aus dem Labor auf den Menschen übertragen kann. Beste Voraussetzungen also, um die nächsten Projekte in Angriff zu nehmen. Die Forscher wollen an den sensiblen Neuronen in Zukunft beispielsweise auch verschiedene Aspekte von neuropathischen Schmerzen modellieren, um den zugrundeliegenden Ursachen auf den Grund zu gehen. In unmittelbarer Vorbereitung ist außerdem eine klinische Studie mit einem potenziell präventiven Medikament, das Patientinnen parallel zur Chemotherapie bekommen sollen. All das mit dem Ziel, Betroffenen zukünftig besser helfen zu können.

Das Projekt sei von Anfang an eine Kombination aus Grundlagenforschung und angewandter klinischer Forschung gewesen, erzählt Christian Schinke und verweist auf die engen Kooperationen mit den Kolleginnen und Kollegen der Core Facilities Stem Cells am Campus Virchow Klinikum und Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, der Bio-Informatik, der Proteomik, Metabolomik und der Neurophysiologie, die „am ersten Erfolg maßgeblich beteiligt“ seien. Dieser Erfolg ist aber nicht rein wissenschaftlich zu sehen, sondern hat auch einen idealistischen Aspekt, welcher den Projektleitenden sehr wichtig ist. „Wir haben die Grundlagen für ein funktionierendes personalisiertes Neurotoxizitätsmodell generiert, das auch anderen Forschergruppen komplett tierfreie Versuchsreihen in naher Zukunft ermöglichen soll“, sagt Christian Schinke. „Wichtige Ziele haben wir erreicht. Wir freuen uns ebenso auf all die spannenden Ergebnisse und Kooperationen, die uns noch erwarten“.

(Text: Beatrice Hamberger)

Das Projekt wird durch die Charité 3R Förderline 3R-Tandems  und von Animalfree Research, Schweiz, gefördert. 

Links

Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie

Core Facility Stem Cells

Contact

Charité 3R



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